Faszien Training: Matrix Reloaded
Seit mittlerweile 40 Jahren arbeite ich als Heilpraktiker, und dieses Jubiläum gibt mir eine gute Gelegenheit, um einmal Bilanz zu ziehen und auf die Entwicklung der Faszienlehre zurückzublicken.
Was Faszien sind:
Das Wort Faszie stammt aus dem Lateinischen und bedeutet Bündel. Früher wurden mit diesem medizinischen Begriff bestimmte Topologien und Histologien in den vielen Schichten des Bindegewebes bezeichnet, aber mittlerweile wird er in einem größeren Kontext für den gesamten Bindegewebskomplex benutzt. Zum Bindegewebe gehören aber auch Blut und große Teile des Immunsystems. Die extrazelluläre
Matrix (ECM) besteht aus den fasrigen und mukösen Substanzen, aus denen sich das Fasziennetz zusammensetzt, inklusive des gesamten gebundenen und freien Wassers, das diese Bestandteile umgibt, nicht aber aus den Bindegewebszellen, die es bilden und erhalten.
Gleitarbeit: Faszien bestehen aus verschiedenen Materialien, u.a. aus zähem Schleim und festen Fasern.
- Das Epimysium um den Vastus lateralis
- Lebendes areolares Bindegewebe
Das Wort Faszie wird heutzutage von Therapeuten, Wissenschaftlern und zunehmend auch Laien verwendet – Anatomen werden sicherlich die Stirn runzeln –, um die Gesamtheit des Weichteilgewebes auf Kollagenbasis zu beschreiben, das sowohl die Entwicklung unserer äußeren Form als auch die physiologischen Prozesse von Selbstheilung und Adaptation bestimmt. (Vorgänge wie das Durchbauen eines gebrochenen Knochens, das Zusammenziehen der Haut bei einer Schnittverletzung oder die Verdickung von Sehnen infolge einer Trainingsbelastung.)
Was Faszien nicht sind:
Zunächst einmal sind Faszien nichts Neues. Ihr arbeitet mit Faszien schon seit Ihr Patienten behandelt habt. Dementsprechend habt Ihr bereits eine Menge intuitiver Erfahrung mit dem Fasziengewebe und seiner Wirkungsweise. Worum es jetzt geht, ist die Frage, ob das stetig zunehmende Fachwissen es Euch erlauben wird, Eure Arbeit bewusster und effektiver zu gestalten.
Auch hier antworte ich mit einem energischen „Ja!“ Die aktuelle Forschung bestätigt nicht nur, was wir ohnehin schon praktizieren; sie weist auch auf spannende neue Tendenzen in unserem Arbeitsfeld hin, ebenso wie auf Entwicklungen, die nicht nur uns Masseuren nützen, sondern auch Yogalehrern, Chiropraktikern, Osteopathen, Personaltrainern und den Schulsportlehrern.
Zweitens gehören Faszien nicht zum Nervensystem. Manche der Dinge, die man heutzutage den Faszien zuschreibt, sind vielmehr eine Angelegenheit des Nervensystems, obwohl beide Systeme natürlich nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. Faszien kontrahieren höchstens äußerst langsam und in besonderen Fällen, Muskeln hingegen reagieren umgehend auf die Befehle des Nervensystems. Sofortige Releases, Änderungen der Gefühlslage, Trigger- und andere Punkte haben vielleicht etwas mit den Faszien zu tun, aber sie entstehen durch die Funktion von Nerven und Muskeln, bzw. werden durch diese moduliert.
Drittens sind Faszien nicht das A und O – sie sind kein Allheilmittel, oder die Antwort auf alle Fragen, die uns beschäftigen. Die Wahrheit ist spannend genug, man muss also nicht versuchen, mehr hineinzuinterpretieren, als sich wissenschaftlich erklären lässt. Sind Faszien so etwas wie eine Flüssigkristall-Antenne, die Basis der menschlichen Intuition, das Medium der Akupunktur und das Heilmittel für Krebs? Das wird sich noch zeigen, aber nachdem ich mich nun schon so lange damit beschäftige, versuche ich mittlerweile, meine Kollegen ein wenig zu bremsen, damit sie sich nicht in reinem Wunschdenken ergehen.
Wir wissen auf jeden Fall, dass das Fasziennetz die Matrix für Entwicklung ist, und wenn alles richtig funktioniert, bietet es die mechanische Umgebung und Steuerung für die 60 Billionen Zellen im menschlichen Körper. Im Idealfall befinden sich alle Neuronen, Muskeln und Epithelzellen an ihrem vorgesehenen, optimalen Platz, sind im Gleichgewicht und können richtig arbeiten. Wenn die Zellen verklebt, dehydriert oder überbeansprucht sind – und manchmal tritt ein solcher Zustand in großem zeitlichen Abstand zum eigentlichen Problem auf – ermüden sie oder geraten unter Druck und können ihre Arbeit nicht mehr ordentlich erledigen. Das ist schon eine ganze Menge, man muss den Faszien also keine Kräfte zuschreiben, die sie gar nicht besitzen.
Bizeps: Wir isolieren jeden einzelnen Muskel, hier den Biceps brachii – und analysieren, wie er sich verhalten würde, wenn er der einzige Muskel im Skelett wäre. Neuere Studien zeigen, wie beschränkt diese Sichtweise ist. Der Körper denkt in anderen Dimensionen.
Die Muskeln sind tot – lang leben die Faszien!
Durch ein genaueres Studium der Faszien und unseres neuen Verständnisses von Biomechanik wird sich unsere Vorstellung von der Funktionsweise des Körpers verändern, und damit auch die Methoden, mit denen wir manuelle Therapie vermitteln bzw. Leistungssteigerungen in den wesentlichen Bereichen Sport, Alltag und künstlerischem Ausdruck erreichen. Je mehr ich mich mit dem Thema befasse, desto sicherer bin ich, dass wir unsere Vorstellung von einem Muskel überdenken müssen.
Das Konzept von „einem Muskel“ bildet die Grundlage von so vielen unserer biomechanischen Theorien – Ursprung, Ansatz und Funktionen, was geschieht in der konzentrischen, exzentrischen und isometrischen Kontraktion etc. – dass sich damit Unmengen von Büchern füllen lassen. Nachdem ich mich aber nun schon seit 40 Jahren mit dem menschlichen Körper auseinandersetze, bin ich davon überzeugt, dass dies der größte Denkfehler der letzten 400 Jahre ist.
Frühe Anatomen sezierten Leichen mit denselben Werkzeugen, die Jäger und Metzger an Tierkadavern verwendeten: Klingen. Diese wurde immer schärfer und dünner – aber die Analysemethode ist die gleiche geblieben. Wenn man bei einer Sektion mit der schmutzigen Realität von Fett und Faszien in Berührung kommt, ist die Versuchung groß, den Körper im wahrsten Wortsinn begreifbar zu machen, indem man einen Muskel von den Faszien löst und ihm einen Namen gibt.
Faszien und Schmerzen
Wie verursachen Faszien Schmerzen?
Seit einigen Jahren tut sich viel in der Faszienforschung. Durch die von uns entwickelte neue Schmerztherapie bin ich darin sehr involviert und zugleich begeistert wie modernste Forschung des Bindegewebes, aus dem die Faszien bestehen, völlig neue Zusammenhänge entdeckt. Durch sie können wir nachvollziehen, warum das neue Schmerzverständnis die Frage nach Schmerzentstehung beantworten kann und bisher nicht für möglich gehaltene Wirkungen erzielt.
Das Erklärungsmodell der Schmerzen beschreibt, dass die meisten Schmerzzustände durch zu hohe Zugspannungen in Muskeln und Faszien entstehen. Knorpel der Gelenke und Wirbelsäule werden dadurch zu hoch belastet. Um Verschleiß zu verhindern, stoppt der Körper durch vom Gehirn erzeugte Schmerzen schädigende Bewegungen. Muskeln, welche die Bewegungen erzeugen, bestehen aus vielen parallel verlaufenden Muskelfasern. Jede dieser Fasern, Faserbündel und letztendlich der ganze Muskel sind von Faszienschläuchen umhüllt, die an den Enden der Muskeln zusammenlaufen und die an den Knochen befestigten Sehnen bilden. Muskel und Faszie bilden also eine untrennbare Funktionseinheit.
Bis vor einigen Jahren war in der Medizin nicht bekannt, dass auch in den Faszien Zellen, existieren, welche sich verkürzen können. Diese Zellen ziehen sich zusammen, wenn die Flüssigkeit, die alle Faszien und Zellen umgibt, übersäuert. Dies konnte erst in letzter Zeit nachgewiesen werden. Gleichzeitig wird das Fasziennetz, das sich wie ein dreidimensionales Spinnennetz vorstellen können, permanent umgebaut. Der Umbauplan richtet sich nach den Bewegungen unseres Körpers, die wir im Alltag, Beruf, Sport und Hobby durchführen. Nutzen wir unsere Bewegungsmöglichkeiten, die genetisch durch Gelenk- und Bandkonstruktionen vorgegeben sind nicht oder nur unvollständig, bauen spezielle „Spinnen-Zellen“ Fasziennetze, die kürzer werden als eigentlich notwendig.
Diese kürzer gewobenen Faszien sind verfilzt und unflexibler. Dadurch erhöhen sie massiv die Belastung von Wirbelsäule und Gelenken. Zusätzlich dazu ziehen sich aufgrund ungünstiger Ernährung, Stress, psychischen Traumen und Umweltbelastungen wie Elektrosmog durch die zunehmende Übersäuerung die kontraktilen Zellen in den Faszien zusammen und verstärken dadurch zusätzlich die Belastung der Knorpel in Gelenken und Wirbelsäule. Der Körper reagiert mit zunehmend größerer Unbeweglichkeit, immer schlimmeren Schmerzen, Arthrose, Bandscheibenschäden, Nervenreizungen, Lymphstau sowie einschlafenden Händen und Füßen.
Schmerzmittel, Spritzen und schließlich Operationen wie Nervendurchtrennungen oder künstliche Gelenke und Bandscheiben sowie Versteifungen der Wirbelsäule, ändern nichts an diesen zusätzlich mit zunehmendem Alter immer schlimmeren viel zu großen muskulär-faszialen Spannungen. Die einzige natürliche und dauerhaft wirksame Lösung besteht in der Reduzierung der viel zu großen, belastenden Kräfte. Dies kann bei richtiger Vorgehensweise mit der entsprechenden Therapie und den dazu gehörigen Engpassdehnungen schon in sehr kurzer Zeit zur deutlichen Abschaltung der Schmerzen führen.
Faszien Fitness – Teil 1
Das Bindegewebe ist bekannt für seine eindrucksvolle Anpassungsfähigkeit: Wenn es regelmäßig und zunehmend belastet wird, verändert es seinen Aufbau und seine Struktur entsprechend den Anforderungen.
Myofascial Training
Empfehlungen für ein faszienorientiertes Training in Sport und Bewegungstherapie
Wenn ein Fußballspieler wegen Wadenkrämpfen nicht auflaufen kann, ein Tennisstar sein Match wegen Knieproblemen vorzeitig abbrechen muss oder ein Sprinter mit einem Achillessehnenriss über die Ziellinie humpelt, dann liegt das Problem meist nicht in der Muskulatur oder den Knochen, sondern daran, dass bindegewebige Strukturen – Bänder, Sehnen oder Gelenkkapseln – überlastet und beschädigt wurden (Renström und Johnson 1985, Hyman und Rodeo 2000, Mackey et al. 2008, Counsel und Breidahl 2010). Ein gezieltes Training des Bindegewebes kann daher nicht nur für Sportler und Tänzer, sondern für alle bewegungsfreudigen Menschen sehr sinnvoll sein. Hat der Sportler sein Fasziennetz gut trainiert, also optimal elastisch, geschmeidig und belastbar gemacht, dann kann er seine körperliche Leistung zuverlässig abrufen und hat zudem noch eine hochwirksame Verletzungsprophylaxe betrieben (Kjaer et al. 2009).
Bis heute liegt das Augenmerk im Sport überwiegend auf der klassischen Triade Muskelkraft kardiovaskuläre Ausdauer – neuromuskuläre Koordination (Jenkins 2005). Alternative Bewegungsformen wie Pilates, Yoga, Continuum Movement oder die Kampfkünste kennen und berücksichtigen andererseits zwar die Bedeutung des Bindegewebes, aber häufig nicht die konkreten Erkenntnisse aus der modernen Faszienforschung. Um ein gesundes und widerstandsfähiges Fasziennetz aufzubauen, muss jedoch der aktuelle Wissensstand der Faszienforschung Eingang in die praktischen Trainingsprogramme finden. Wir möchten daher alle Physiotherapeuten, Trainer und Bewegungsfreudigen einladen, die in diesem Kapitel dargestellten Prinzipien zu verinnerlichen und auf ihre ganz persönliche Situation anzuwenden.